Waende Südost
Nils Andersch (Essen)Nils Andersch (Essen)
Das aus zwei Hauptteilen bestehende Bild von Nils Andersch beginnt mit einer liegenden schwarzen Gestalt, die sich wie in einem Schwebezustand auf nur einem Bein hält. Das linke Bein, an dessen Ende sich ein extrem großer und unförmiger Schuh befindet, scheint wie ein Stempel auf dem Erdboden zu stehen und damit die Gestalt in der Waagerechten zu halten. Die physikalische Unmöglichkeit dieser Haltung wird noch dadurch unterstrichen, dass die Figur auch anatomisch keineswegs eine reale menschliche Gestalt darstellen kann. Das linke Bein ist deutlich kürzer als das rechte Bein, um das es geschlungen ist. Das rechte Bein besitzt auf Höhe des Knies oder Unterschenkels einen geschwungenen – einer Achterbahn ähnlichen – Knoten und hat aus diesem Zustand heraus gerade einen Fußball in die Luft geschossen. Die fünf Arme strahlen vom Oberkörper in unterschiedlicher Länge aus und befinden sich alle in Aktion. Ein Arm streckt eine braune Handtasche Richtung Bein, die Hand des zweiten Armes hält eine Schallplatte in die Höhe, die Hand des dritten Armes macht ein Victory-Zeichen, der vierte Arm hält eine Spraydose in der Hand, aus der rote Farbe sprüht, und der fünfte Arm hält eine Flagge, die in Richtung des zweiten Hauptteils des Bildes zeigt, welches den Titel „History Writer – Don’t forget 1920“ trägt und damit auch schon auf dessen Inhalt verweist.
Dadurch, dass eine der fünf Hände der Figur aktiv Farbe aus einer Spraydose sprüht, kommt die Vermutung auf, dass es sich bei der dargestellten Figur um ein Selbstporträt des Künstlers handelt. Der Maler zeigt sich, wie er – mit einem Lächeln im Gesicht – mit mehreren Dingen jonglierend, sich dabei scheinbar entspannt in einer körperlich unmöglich entspannten Situation befindend, dabei ist, den zweiten Teil des Bildes zu sprayen.
Zu sehen ist vor einem blauen Himmel mit dramatischen weißen und lila Wolken die große Zahl „1920“, welche sich durch ihre rot-orange Farbigkeit sehr stark vom Hintergrund abhebt. Die Zahl wirkt wie eine Mauer mit schwarz-weißen Rissen, die noch stabil, aber in Veränderung und auch Zerstörung begriffen ist. Vor dem Himmel und auch vor der Zahl befindet sich eine große Gruppe von Menschen, die von links nach rechts verlaufend aus einer anfänglich anonymen schwarzen Menschenmenge mit rot-schwarzen Fahnen zu einer Gruppe deutlicher Einzelfiguren mit klaren Gesichtszügen wird. Der Anführer dieser Gruppe lässt durch seine Körperhaltung – die rechte Hand zur Faust geballt, den linken Arm mit ausgestrecktem Zeigefinger nach vorne weisend – eine klare und kämpferische Absicht erkennen. Rechts neben dem Anführer der Gruppe ist als schwarze Silhouette deutlich das Ruhrgebiet zu erkennen, mit Fördertürmen und Industrieanlagen. Farblich auffallend ist der rot-grüne Wasserturm, welcher sich am Ende einer bewohnten Welt zu befinden scheint. Je nach Position des Bildbetrachters, kann er sowohl den gemalten Wasserturm, als auch den realen Wasserturm, der sich hinter den Schallschutzwänden erhebt, mit einem Blick erfassen. Somit ist die deutliche Verbindung zwischen Inhalt des Bildes und Örtlichkeit desselben klar hervorgehoben – auch ohne den Inhalt des Bildes sofort zu verstehen.
Auf dem Bild ist rechts neben der Silhouette des Ruhrgebiets ein dramatisch wirkender Wolkenhimmel zu sehen, über den von links nach rechts ein Taubenschwarm zieht. Die Tauben werden nach rechts hin immer größer und finden in der Darstellung einer einzelnen – fast bildfüllenden – Taube ihren Abschluss. Die Bedeutung, die das Bild einer Taube auch über Kulturgrenzen hinweg hat, „Liebe“ und „Frieden“, wird vielen Bildbetrachtern geläufig sein.
Nils Andersch über sein Bild: „Mein Bild ‚ History Writer – Don’t Forget 1920‘ behandelt ein Stück der Geschichte, die im Ruhrgebiet, in Essen und auch speziell im Südostviertel stattgefunden hat. Im Jahre 1920, kurz nach dem ersten Weltkrieg, haben faschistische Milizen(Freikorps) die noch junge parlamentarisch-demokratische Regierung zu stürzen versucht(Kapp- Putsch). Darauf hin haben sich überall im Land vor allem Arbeiter erhoben, darunter Hunderttausende im Ruhrgebiet, um diesen Putsch mit Hilfe von Generalstreik und auch bewaffnetem Kampf zurück zuschlagen. Nach dem der Putsch besiegt war und die Arbeiterräte jedoch weitergehende politische Änderungen durchsetzen wollten, entschloss sich die gerade erst gerettete Regierung, die Arbeiteraufstände niederzuschlagen. Dabei bediente sie sich neben der Reichswehr zumTeil desselben faschistische Freikorps, von dem sie kurz zuvor noch gestürzt worden war und ging äußerst brutal vor.“
Nils Andersch wurde 1982 in Duisburg geboren. 1998 begann er als Graffitikünstler aktiv zu werden. Seit einiger Zeit experimentiert er mit Leinwandarbeiten und Installationen im Rahmen von Gruppenausstellungen. Seine erste Einzelausstellung bestritt er 2006 in der legendären „Gigoleria“ in Essen. Nils Andersch ist Gründungsmitglied und zeitweise Vorstand des gemeinnützigen Vereins für Kunstförderung Port e.V. In Zusammenarbeit mit anderen Künstlern gestaltete er verschiedene Wandbilder in Essen, wie auf der Fassade des Hauses Storp9 mit Moni van Rheinberg oder das Mural an der Krampestraße zusammen mit anderen Künstlern des Port e.V. Mit dem Verein >>Simama e.V. führte er mehrfach Kunstprojekte und Muralarbeiten in Nairobi, Kenia durch. Weitere Ausstellungen waren Gruppenausstellungen im Rahmen der Initiative Freiraum 2010 im besetzten DGB-Haus in Essen und der ehemaligen Lukas-Kirche in Essen-Holsterhausen, eine Aktionsmalerei bei der Eröffnung des Kulturhauptstadtjahres auf Zeche Zollverein und Installationen auf dem Fusion-Festival 2011.
„In meiner Kunst setze ich mich mit meiner Umgebung auseinander, also dem, was ich sehe und dem was mich berührt. Das führt dazu, dass ich Orte aus meinem Umfeld, Szenen aus meinem Leben oder Geschichten aus meiner Innenwelt beispielsweise auf Leinwänden abbilde. Im umgekehrten Fall kommt es aber auch dazu, dass nicht die Umgebung in meine Kunst einfließt, sondern die Kunst in meine Umgebung fließen muss. Damit ich mich in meiner Stadt und meiner Welt wohler fühlen kann. Diese Wechselwirkung wird für mich besonders im Austausch mit anderen Menschen interessant, denen ich auf diesen Wegen begegne. Als Freund, Mitstreiter, Weggefährte, Künstler, Passant, Nachbar, Täter oder unsichtbares Wesen…“
Weitere Künstler
>>Adam Masava Onyango, Nairobi/Kenia
>>Add Entry, Essen
>>Bastardilla, Bogotá/Kolumbien
>>Cyop & Kaf, Neapel/Italien
>>Dominik Hebestreit, Wuppertal
>>Freiwillig, Essen
>>Gabor Doleviczenyi, Essen
>>Gigo, Essen
>>Goran Novakovic, Zagreb/Kroatien
>>Gunnar Zimmer, Berlin
>>Honet, Paris/Frankreich
>>Jachya Freeth, Berlin und Amsterdam/Niederlande
>>van Laak, Düsseldorf
>>Lawrence Mwangi (Shabu), Nairobi/Kenia
>>Nora Schlebusch, Essen
>>Skount, Amsterdam/Niederlande und Almagro/Spanien
>>Stinkfish, Bogotá/Kolumbien
>>Suriya Fornrumdee, Phuket City/Thailand